Lose-Lose-Situation für Bürger*innen und Staat
Ob für Patient*innen, das Gesundheitswesen oder die Wirtschaft: Die geringe Gesundheitskompetenz der Deutschen hat gravierende Folgen, so das Ergebnis einer Studienreihe der Universität Bielefeld aus den Jahren 2016, 2020 und 2021 (HLS-GER 2/Ergebnisse, S. 5 f.).
- Mangelndes gesundheitsförderliches Verhalten: Menschen mit einer geringen Gesundheitskompetenz legen in den Bereichen Ernährung und Bewegung seltener gesundheitsbewusstes Verhalten an den Tag. So konsumieren nur 31,0 Prozent der Befragten mit unzureichender Gesundheitskompetenz täglich Obst, Gemüse und Salate. Bei Personen mit exzellenter Gesundheitskompetenz beträgt der Anteil 49,6 Prozent.
- Fehltage durch Krankheit: Personen mit niedriger Gesundheitskompetenz weisen eine höhere Anzahl krankheitsbedingter Fehltage auf. Während 35,4 Prozent der Befragten mit sehr hoher Gesundheitskompetenz in den letzten 12 Monaten mindestens sechs Tage krankgeschrieben waren, liegt dieser Anteil bei Menschen mit inadäquater Gesundheitskompetenz bei 49,6 Prozent.
- Überlastung des Gesundheitssystems: Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz beanspruchen häufiger ärztliche Leistungen. So besuchten 13,6 Prozent der Befragten mit sehr hoher Gesundheitskompetenz in den letzten 12 Monaten mindestens sechs mal eine Hausarztpraxis, während es bei denjenigen mit unzureichender Gesundheitskompetenz 27,8 Prozent waren.
Darüber hinaus stellten die Forschenden fest: Die Gesundheitskompetenz korreliert mit der Selbsteinschätzung des Gesundheitszustandes. Je besser die Gesundheitskompetenz, desto besser schätzten die Befragten ihren Gesundheitszustand ein. Als sehr gut bewerteten 38,6 Prozent der Befragten mit hoher Kompetenz ihren Gesundheitszustand. Bei den Befragten mit geringer Gesundheitskompetenz waren es nur 14,3 Prozent (2020). Ein kausaler Zusammenhang ist nicht abschließend geklärt, jedoch wird vermutet, dass ein schlechter Gesundheitszustand auf geringe Gesundheitskompetenz zurückzuführen ist (HLS-GER 2/Vergleich, S. 15).
Lukas Waidhas, Community Health Nurse an der Poliklinik Veddel
»Unser Versorgungssystem ist wie ein dubioser Test – mit Fragen, die kaum jemand beantworten kann.«

„Dass viele Menschen ihre Gesundheitskompetenz als so schlecht einschätzen, überrascht mich nicht. Relevante Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, ist aktuell maximal schwer. Besonders, wenn man die Sprache nicht spricht oder andere Alltagssorgen hinzukommen.
Ob Menschen, die länger krank sind und regelmäßig Termine wahrnehmen müssen oder Menschen, die sich um die Gesundheit und Pflege von Nahestehenden kümmern – sie alle eint die gleiche Erfahrung: Überforderung. Zig viel zu kurze Termine, zig Meinungen, zig Anträge. Für jeden Antrag andere Kassen, Sozialgesetzbücher, Anlaufstellen und Beratungen. Papierkram ohne Ende, Briefe, Mails, Faxe und jetzt auch noch Apps. Dann fange ich selbst an, im Internet zu suchen und stehe vor der Herausforderung zu filtern: Welche Informationen sind wirklich relevant und richtig? Und welche dienen hauptsächlich dazu, mir etwas zu verkaufen?”
Geringe Gesundheitskompetenz betrifft Alt und Jung
Die individuelle Gesundheitskompetenz der Deutschen ist gering und nimmt weiter ab. Stuften 2014 noch 54,3 Prozent der Befragten ihre Gesundheitskompetenz als problematisch oder inadäquat ein, waren es 2020 bereits 64,2 Prozent.
Überraschend: Neben den Ü65-Jährigen, die zu beiden Messzeitpunkten die Gruppe mit der niedrigsten Gesundheitskompetenz waren, hat die Altersgruppe der U-30 Jährigen in den letzten Jahren verstärkt Schwierigkeiten, Informationen zu Gesundheit und Krankheit angemessen zu verarbeiten. Eine Erklärung für das problematische Abschneiden der Jungen steht bislang aus. Lediglich die Gruppe der 30- bis 45-Jährigen ist stabil geblieben (HLS-GER 2/Vergleich, S. 5).
WAS IST GESUNDHEITSKOMPETENZ?
Die Wissenschaft unterscheidet zwischen der individuellen (personalen) Gesundheitskompetenz und der organisationalen Gesundheitskompetez. Die individuelle Gesundheitskompetenz beschreibt, inwiefern Menschen dazu in der Lage sind, Gesundheitsinformationen für ihr eigenes Wohlergehen zu nutzen. Die organisationale Gesundheitskompetenz beschäftigt sich damit, inwiefern Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung Maßnahmen ergreifen, um Patient*innen gute gesundheitsbezogene Entscheidungen zu ermöglichen. Zwischen der individuellen und organisationalen Gesundheitskompetenz besteht ein relationaler Zusammenhang. So kann sich eine individuelle Gesundheitskompetenz nur dann entwickeln, wenn Gesundheitsinformationen von Organisationen oder Versorgenden verständlich aufbereitet und zugänglich gemacht werden. Ist in Publikationen von Gesundheitskompetenz die Rede, ist meist die individuelle Gesundheitskompetenz gemeint.
Im EU-Vergleich hinkt Deutschland hinterher
Die jüngsten Vergleichsdaten zum Stand Deutschlands in der EU stammen aus dem Jahr 2016 (HLS-GER 1) und knüpfen an die Ergebnisse des Europäischen Health Literacy Surveys aus dem Jahr 2012 an (HLS-EU:2009-2012). Der Vergleich zeigt, dass Deutschland bei der Gesundheitskompetenz im Mittelfeld rangiert. Der Anteil an problematischer Gesundheitskompetenz ist hier höher als der EU-Durchschnitt, während der Anteil exzellenter Gesundheitskompetenz mit 7,3 % deutlich darunter liegt (EU-Durchschnitt: 16,5 Prozent). Nur Österreich und Spanien weisen ähnlich niedrige Werte auf (HLS-GER 1, S. 39.)
Unterschiede in den Gesundheitssystemen der Länder beeinflussen die Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Aktuell arbeitet das WHO Netzwerk M-POHL (Measuring Population and Organizational Health Literacy) daran, eine solide und aktuelle Datenbasis zu schaffen. Zu diesem Zweck wird im Zeitraum 2024 bis 2026 die Gesundheitskompetenz in 21 EU-Ländern erhoben. Die Ergebnisse werden 2026 erwartet (HLS24).
Gesundheitskompetenz ist eine soziale Frage
Niedrige Gesundheitskompetenz tritt häufiger bei Menschen mit niedrigem Bildungsgrad, niedrigem Sozialstatus, Migrationserfahrung, höherem Lebensalter sowie chronischen Erkrankungen oder langandauernden Gesundheitsproblemen auf. (HLS-GER 2/Ergebnisse, S. 3). Sie ist also gesellschaftlich ungleich verteilt. Um diesen Missstand zu beheben, fordern Wissenschaftler*innen differenzierte, zielgruppengerechte Interventionskonzepte. Sie sollen die Teilhabechancen speziell für vulnerable Gruppen verbessern.

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Primärversorgungszentren stärken die Gesundheitskompetenz nachhaltig
Die Stärkung der Gesundheitskompetenz gilt als eine der dringlichsten Aufgaben der Gesundheitspolitik. Denn die individuelle Gesundheitskompetenz ist keine rein persönliche Angelegenheit. Sie ist kontextabhängig und hängt stark davon ab, inwiefern Organisationen Gesundheitsinformationen bereitstellen (Jordan, S. 2023). Organisationale Gesundheitskompetenz schafft die Voraussetzung dafür, dass Patient*innen individuelle Gesundheitskompetenz entwickeln können. Dafür setzt sich auch das Bundesministerium für Gesundheit ein und sucht im Rahmen von ausgewählten Projekten wie der Allianz für Gesundheitskompetenz und dem Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz nach Lösungen.
Einen Lösungsansatz bietet das Innovationsfondsprojekt NAVIGATION. Das Projekt verfolgt das Ziel, Primärversorgungszentren (PVZ) als neue ambulante Versorgungsform in Deutschland zu etablieren. PVZ bieten eine wohnortnahe interprofessionelle Versorgung unter einem Dach und sind darauf ausgelegt, Patient*innen mit geringer Gesundheitskompetenz bestmöglich zu versorgen. Organisationale Gesundheitskompetenz ist fest im Versorgungsmodell verankert und kommt in folgenden Maßnahmen zum Ausdruck:
Organisationale Gesundheitskompetenz in NAVIGATION-Primärversorgungszentren
- Case Management: Community Health Nurses begleiten Patient*innen auf ihrem gesamten Versorgungspfad, stimmen Behandlungsangebote ab und erleichtern den Zugang zu passenden Gesundheitsleistungen.
- Empowerment: Im Rahmen von Gruppenangeboten wird zur Verhaltens- und Verhältnisprävention informiert. Die Patient*innen bekommen den Raum, sozialen Determinanten kollektiv entgegen zu treten.
- Aufklärung und Beratung: Auf dem interprofessionellen Versorgungspfad werden die Patient*innen von Fachleuten unterschiedlicher Disziplinen über gesundheitsrelevante Faktoren aufgeklärt.