Autorin: Eva Karnowski, Wissenschaftliche Beratung: Katja Schlegel, Lukas Waidhas
Fallstrick Gesundheitskompetenz:

Jede:r Zweite stolpert durch das Gesundheitssystem

Viele Infos, aber kein Plan: Immer Mehr Menschen haben Probleme damit, Gesundheitswissen für ihr eigenes Wohl zu nutzen.
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62 Prozent der Menschen in Deutschland haben eine geringe individuelle Gesundheitskompetenz. Sie haben große Schwierigkeiten dabei, gesundheitsrelevante Informationen ausfindig zu machen, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden. Geringe Gesundheitskompetenz ist vor allem eine soziale Frage. Eine Gesundheitspolitik, die ernsthaft diesen Missstand beheben will, muss diese Frage beantworten.

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Lose-Lose-Situation für Bürger*innen und Staat

Ob für Patient*innen, das Gesundheitswesen oder die Wirtschaft: Die geringe Gesundheitskompetenz der Deutschen hat gravierende Folgen, so das Ergebnis einer Studienreihe der Universität Bielefeld aus den Jahren 2016, 2020 und 2021 (HLS-GER 2/Ergebnisse, S. 5 f.).

Darüber hinaus stellten die Forschenden fest: Die Gesundheitskompetenz korreliert mit der Selbsteinschätzung des Gesundheitszustandes. Je besser die Gesundheitskompetenz, desto besser schätzten die Befragten ihren Gesundheitszustand ein. Als sehr gut bewerteten 38,6 Prozent der Befragten mit hoher Kompetenz ihren Gesundheitszustand. Bei den Befragten mit geringer Gesundheitskompetenz waren es nur 14,3 Prozent (2020). Ein kausaler Zusammenhang ist nicht abschließend geklärt, jedoch wird vermutet, dass ein schlechter Gesundheitszustand auf geringe Gesundheitskompetenz zurückzuführen ist (HLS-GER 2/Vergleich, S. 15).

Lukas Waidhas, Community Health Nurse an der Poliklinik Veddel

„Dass viele Menschen ihre Gesundheitskompetenz als so schlecht einschätzen, überrascht mich nicht. Relevante Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, ist aktuell maximal schwer. Besonders, wenn man die Sprache nicht spricht oder andere Alltagssorgen hinzukommen.

Ob Menschen, die länger krank sind und regelmäßig Termine wahrnehmen müssen oder Menschen, die sich um die Gesundheit und Pflege von Nahestehenden kümmern – sie alle eint die gleiche Erfahrung: Überforderung. Zig viel zu kurze Termine, zig Meinungen, zig Anträge. Für jeden Antrag andere Kassen, Sozialgesetzbücher, Anlaufstellen und Beratungen. Papierkram ohne Ende, Briefe, Mails, Faxe und jetzt auch noch Apps. Dann fange ich selbst an, im Internet zu suchen und stehe vor der Herausforderung zu filtern: Welche Informationen sind wirklich relevant und richtig? Und welche dienen hauptsächlich dazu, mir etwas zu verkaufen?”

Geringe Gesundheitskompetenz betrifft Alt und Jung

Die individuelle Gesundheitskompetenz der Deutschen ist gering und nimmt weiter ab. Stuften 2014 noch 54,3 Prozent der Befragten ihre Gesundheitskompetenz als problematisch oder inadäquat ein, waren es 2020 bereits 64,2 Prozent.

Überraschend: Neben den Ü65-Jährigen, die zu beiden Messzeitpunkten die Gruppe mit der niedrigsten Gesundheitskompetenz waren, hat die Altersgruppe der U-30 Jährigen in den letzten Jahren verstärkt Schwierigkeiten, Informationen zu Gesundheit und Krankheit angemessen zu verarbeiten. Eine Erklärung für das problematische Abschneiden der Jungen steht bislang aus. Lediglich die Gruppe der 30- bis 45-Jährigen ist stabil geblieben (HLS-GER 2/Vergleich, S. 5).

WAS IST GESUNDHEITSKOMPETENZ?

Die Wissenschaft unterscheidet zwischen der individuellen (personalen) Gesundheitskompetenz und der organisationalen Gesundheitskompetez. Die individuelle Gesundheitskompetenz beschreibt, inwiefern Menschen dazu in der Lage sind, Gesundheitsinformationen für ihr eigenes Wohlergehen zu nutzen. Die organisationale Gesundheitskompetenz beschäftigt sich damit, inwiefern Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung Maßnahmen ergreifen, um Patient*innen gute gesundheitsbezogene Entscheidungen zu ermöglichen. Zwischen der individuellen und organisationalen Gesundheitskompetenz besteht ein relationaler Zusammenhang. So kann sich eine individuelle Gesundheitskompetenz nur dann entwickeln, wenn Gesundheitsinformationen von Organisationen oder Versorgenden verständlich aufbereitet und zugänglich gemacht werden. Ist in Publikationen von Gesundheitskompetenz die Rede, ist meist die individuelle Gesundheitskompetenz gemeint.

Im EU-Vergleich hinkt Deutschland hinterher

Die jüngsten Vergleichsdaten zum Stand Deutschlands in der EU stammen aus dem Jahr 2016 (HLS-GER 1) und knüpfen an die Ergebnisse des Europäischen Health Literacy Surveys aus dem Jahr 2012 an (HLS-EU:2009-2012). Der Vergleich zeigt, dass Deutschland bei der Gesundheitskompetenz im Mittelfeld rangiert. Der Anteil an problematischer Gesundheitskompetenz ist hier höher als der EU-Durchschnitt, während der Anteil exzellenter Gesundheitskompetenz mit 7,3 % deutlich darunter liegt (EU-Durchschnitt: 16,5 Prozent). Nur Österreich und Spanien weisen ähnlich niedrige Werte auf (HLS-GER 1, S. 39.)

Unterschiede in den Gesundheitssystemen der Länder beeinflussen die Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Aktuell arbeitet das WHO Netzwerk M-POHL (Measuring Population and Organizational Health Literacy) daran, eine solide und aktuelle Datenbasis zu schaffen. Zu diesem Zweck wird im Zeitraum 2024 bis 2026 die Gesundheitskompetenz in 21 EU-Ländern erhoben. Die Ergebnisse werden 2026 erwartet (HLS24).

Gesundheitskompetenz ist eine soziale Frage

Niedrige Gesundheitskompetenz tritt häufiger bei Menschen mit niedrigem Bildungsgrad, niedrigem Sozialstatus, Migrationserfahrung, höherem Lebensalter sowie chronischen Erkrankungen oder langandauernden Gesundheitsproblemen auf. (HLS-GER 2/Ergebnisse, S. 3). Sie ist also gesellschaftlich ungleich verteilt. Um diesen Missstand zu beheben, fordern Wissenschaftler*innen differenzierte, zielgruppengerechte Interventionskonzepte. Sie sollen die Teilhabechancen speziell für vulnerable Gruppen verbessern.

Eine Frage der Ressourcen: Gesund zu leben kann sich nicht jede*r leisten.
Foto: Yan Krukau / Pexels

Primärversorgungszentren stärken die Gesundheitskompetenz nachhaltig

Die Stärkung der Gesundheitskompetenz gilt als eine der dringlichsten Aufgaben der Gesundheitspolitik. Denn die individuelle Gesundheitskompetenz ist keine rein persönliche Angelegenheit. Sie ist kontextabhängig und hängt stark davon ab, inwiefern Organisationen Gesundheitsinformationen bereitstellen (Jordan, S. 2023). Organisationale Gesundheitskompetenz schafft die Voraussetzung dafür, dass Patient*innen individuelle Gesundheitskompetenz entwickeln können. Dafür setzt sich auch das Bundesministerium für Gesundheit ein und sucht im Rahmen von ausgewählten Projekten wie der Allianz für Gesundheitskompetenz und dem Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz nach Lösungen.

Einen Lösungsansatz bietet das Innovationsfondsprojekt NAVIGATION. Das Projekt verfolgt das Ziel, Primärversorgungszentren (PVZ) als neue ambulante Versorgungsform in Deutschland zu etablieren. PVZ bieten eine wohnortnahe interprofessionelle Versorgung unter einem Dach und sind darauf ausgelegt, Patient*innen mit geringer Gesundheitskompetenz bestmöglich zu versorgen. Organisationale Gesundheitskompetenz ist fest im Versorgungsmodell verankert und kommt in folgenden Maßnahmen zum Ausdruck:

Organisationale Gesundheitskompetenz in NAVIGATION-Primärversorgungszentren