Versorgungsqualität in Gefahr
Immer mehr Menschen leiden unter mehreren chronischen Krankheiten. Eine angemessene Versorgung zu erhalten, ist für sie eine Herausforderung – vor allem wegen der fragmentierten Versorgungsstruktur und des Pflegenotstands.
Zersplitterte Versorgungslandschaft: Multimorbide Patient*innen müssen häufig verschiedene Fachärzt*innen aufsuchen, was bereits im Vorfeld organisatorische Herausforderungen mit sich bringt: Mehrere Termine müssen koordiniert, lange Wartezeiten eingeplant und bürokratische Hürden bewältigt werden. Besonders ältere Menschen stoßen hier an ihre Grenzen. Zudem leidet die Behandlungsqualität unter mangelnder Abstimmung zwischen Ärzt*innen. Ohne eine ganzheitliche Therapie drohen widersprüchliche Behandlungsansätze oder sogar Medikationsfehler.
Pflegenotstand: Viele Betroffene sind auf tägliche Unterstützung angewiesen – doch ambulante Pflegekräfte sind knapp. Gleichzeitig stellt die Finanzierung von häuslicher Pflege oder Alltagsunterstützung für viele eine Hürde dar.
Multimorbidität treibt Gesundheitskosten in die Höhe
Die Behandlung multimorbider Patient*innen ist teuer. Bereits bei zwei gleichzeitig auftretenden Erkrankungen können die Kosten im Vergleich zu nicht multimorbiden Patient*innen auf das Zwei- bis Sechzehnfache steigen (Faust, S. 6). Denn die Kosten nehmen nicht linear zu, sondern steigen exponentiell (Bas, S. 356).
Diese Faktoren führen zu höheren Ausgaben:
- Mehr Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte
Multimorbide Patient*innen benötigen häufiger medizinische Untersuchungen, Kontrolltermine und stationäre Behandlungen. - Komplexere Therapien und Medikation
Die gleichzeitige Behandlung mehrerer Erkrankungen erfordert abgestimmte Therapien, um Wechsel- und Nebenwirkungen zu vermeiden. Das führt oft zu teuren Medikamenten oder spezialisierten medizinischen Geräten. - Steigender Pflege- und Betreuungsbedarf
Viele Betroffene sind auf ambulante Pflegedienste oder stationäre Einrichtungen angewiesen – mit entsprechenden Kosten. - Längere Rehabilitation und spezialisierte Betreuung
Nach akuten Ereignissen wie Schlaganfällen oder Herzinfarkten benötigen multimorbide Patient*innen oft eine umfassendere und langfristigere Versorgung. - Häufigere Notfälle und ungeplante Behandlungen
Durch ein erhöhtes Risiko für Komplikationen kommt es öfter zu Notfalleinweisungen und intensivmedizinischen Maßnahmen – ein weiterer Kostentreiber.
WHO fordert neue Standards
Der Anstieg der Multimorbidität im Zuge des demografischen Wandels ist ein weltweites Problem – nicht nur in Deutschland. Die WHO hat daher die Jahre 2021 bis 2030 zur „Decade of Healthy Ageing“ erklärt und praxisnahe Strategien für den Umgang mit multimorbiden Patient*innen entwickelt (Transitions of Care, S. 6). Für die ambulante Versorgung sind folgende Empfehlungen relevant:
- Pflegekoordination und Fallmanagement für Menschen mit komplexen Bedürfnissen bereitstellen
- Nachsorgeuntersuchungen frühzeitig und bedarfsgerecht durchführen, einschließlich Hausbesuchen und telefonischer Betreuung
- Gesundheitskompetenz stärken, indem Patient*innen, Angehörige und Betreuende gezielt aufgeklärt werden
- Sichere Medikation gewährleisten durch etablierte Verfahren zum Medikationsabgleich
Primärversorgungszentren: Bessere Betreuung für multimorbide Patient*innen
Im Rahmen des Innovationsfondsprojekts NAVIGATION wird derzeit ein Versorgungsmodell entwickelt, das die WHO-Empfehlungen umsetzt und eine bessere Betreuung für Menschen mit komplexen Gesundheitsbedarfen ermöglicht. Als Alternative zur fragmentierten Versorgungslandschaft mit vielen Anlaufstellen setzt NAVIGATION auf Primärversorgungszentren (PVZ) – lokale Gesundheitszentren, in denen biomedizinische, psychologische und soziale Fachkräfte im interdisziplinären Team zusammenarbeiten.
„Die Behandlung von multimorbiden Patient*innen funktioniert am besten im interprofessionellen Team“, sagt Katja Schlegel, Projektleiterin von NAVIGATION.
Ganzheitliche Betreuung durch Fallmanagement
Ein zentraler Bestandteil der PVZ ist das Fallmanagement, das von Community Health Nurses (CHN) übernommen wird. Diese speziell ausgebildeten Fachkräfte planen gemeinsam mit den Patient*innen den individuellen Versorgungspfad und koordinieren alle notwendigen Maßnahmen. Das entlastet die Patient*innen organisatorisch und stellt sicher, dass sie eine ganzheitliche, abgestimmte Therapie erhalten.
Nachsorge: Engmaschige Betreuung statt Versorgungslücken
Nachsorgeuntersuchungen sind ein fester Bestandteil des Modells. Über telefonische Check-ups behalten die CHN den Gesundheitszustand der Patient:innen im Blick und passen bei Bedarf den Therapieplan an. Für Menschen mit eingeschränkter Mobilität sind auch Hausbesuche vorgesehen.
Stärkung der Gesundheitskompetenz
Die Förderung der Gesundheitskompetenz erfolgt auf zwei Ebenen: Verhaltens- und Verhältnisprävention. Neben klassischen Präventionsthemen werden Patient:innen über soziale Gesundheitsfaktoren wie Wohn- und Arbeitsbedingungen oder Rassismuserfahrungen aufgeklärt. Diese Themen werden sowohl in individuellen Beratungsgesprächen als auch in Gruppenangeboten behandelt, um kollektiv Lösungen zu erarbeiten.
Effiziente Kommunikation und sichere Medikation
Effektive Informationsweitergabe ist ein zentraler Bestandteil des Versorgungsmodells. Neben der Koordination durch die CHN werden regelmäßig Fallbesprechungen abgehalten und eine interprofessionelle Datenbank genutzt. Dadurch ist ein Medikationsabgleich jederzeit möglich, was das Risiko von Fehlmedikation und Wechselwirkungen minimiert.
Interprofessionelle Versorgung ist effiziente Versorgung
Primärversorgungszentren (PVZ) verbessern nicht nur die Versorgungsqualität, sondern haben auch das Potenzial, Gesundheitskosten zu senken und das System nachhaltig zu entlasten.
- Vermeidung von Überversorgung: Durch die koordinierte Planung des Versorgungspfads durch Community Health Nurses (CHN) entfallen unnötige Arztbesuche und kostspielige Übermedikation.
- Weniger Notfälle und Klinikaufenthalte: Die engmaschige Betreuung durch CHN kann gesundheitliche Komplikationen frühzeitig aufdecken und Notfälle verhindern.
- Reduzierte Pflegekosten: CHN erleichtern den Zugang zur häuslichen Pflege, wodurch der Übergang in teure stationäre Einrichtungen hinausgezögert werden kann. Zudem spart eine quartiersbezogene Pflegeorganisation Kosten, da unnötige Wegzeiten entfallen.
„Um langfristig eine hochwertige und wirtschaftliche Versorgung sicherzustellen, sollte Deutschland verstärkt auf PVZ setzen. Eine flächendeckende Einführung dieses Modells könnte dazu beitragen, das Gesundheitssystem effizienter, nachhaltiger und patientenorientierter zu gestalten.“, so Katja Schlegel. NAVIGATION trägt dazu bei, indem es ein Best-Practice-Modell für PVZ erarbeitet und so die Grundlage für eine Aufnahme des Versorgungsmodells in die Regelversorgung der gesetzlichen Krankenkassen schafft.