Österreich mangelt es an Allgemeinmediziner*innen

Der Ärztemangel in der Allgemeinmedizin ist ein wachsendes Problem. Während Österreich insgesamt eine hohe Arztdichte aufweist – mit 5,4 Ärzt*innen pro 1.000 Einwohner*innen – sind nur 14 Prozent der praktizierenden Mediziner*innen Allgemeinärzt*innen. Der internationale Durchschnitt liegt bei 23 Prozent (2021, lab.neos.eu). Ein Mangelzustand, der sich in den kommenden Jahren zuspitzen wird: 33,7 Prozent der Ärzteschaft ist über 55 Jahre alt (Statista). Österreich steht mit dem Problem nicht allein da. Europaweit mangelt es an Allgemeinmediziner*innen (voxeurop.eu). Auch Deutschland steuert auf einen Hausärztemangel zu: 40 Prozent der Landkreise werden 2035 unterversorgt sein, so einen Prognose der Robert-Bosch-Stiftung (Robert-Bosch-Stiftung, 2021). 

Für die Primärversorgung hat das gravierende Folgen: Kassenpatient*innen warten lange auf Termine, während sich Besserverdienende Privatsprechstunden leisten können. Menschen mit geringem Einkommen bleibt in akuten Fällen oft nur der Weg ins Krankenhaus – eine ineffiziente und kostspielige Belastung für das Gesundheitssystem. Eine ähnliche Problemlage findet man in Deutschland. 

Lukas Waidhas, Community Health Nurse an der Poliklinik Veddel

„Dass viele Menschen ihre Gesundheitskompetenz als so schlecht einschätzen, überrascht mich nicht. Relevante Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, ist aktuell maximal schwer. Besonders, wenn man die Sprache nicht spricht oder andere Alltagssorgen hinzukommen.

Ob Menschen, die länger krank sind und regelmäßig Termine wahrnehmen müssen oder Menschen, die sich um die Gesundheit und Pflege von Nahestehenden kümmern – sie alle eint die gleiche Erfahrung: Überforderung. Zig viel zu kurze Termine, zig Meinungen, zig Anträge. Für jeden Antrag andere Kassen, Sozialgesetzbücher, Anlaufstellen und Beratungen. Papierkram ohne Ende, Briefe, Mails, Faxe und jetzt auch noch Apps. Dann fange ich selbst an, im Internet zu suchen und stehe vor der Herausforderung zu filtern: Welche Informationen sind wirklich relevant und richtig? Und welche dienen hauptsächlich dazu, mir etwas zu verkaufen?”

Neben dem Ärztemangel verschärft ein weiterer Trend die Versorgungskrise: die abnehmende Zahl an Kassenärzt*innen. Immer mehr Mediziner*innen verzichten auf einen Kassensitz und entscheiden sich für eine Privatpraxis. Der Grund liegt weniger in den Verdienstmöglichkeiten als in den anspruchsvollen Arbeitsbedingungen, die mit den Kassenverträgen verbunden sind. Starre Vorgaben zu Öffnungszeiten und Tarifen erschweren eine ausgewogene Work-Life-Balance, sodass viele Ärzt*innen nach Alternativen suchen (lab.neos.eu).

Allgemeinmedizin stärken heißt Frauen stärken

Der Ruf nach mehr Work-Life-Balance ist Ausdruck eines Generationswechsels und branchenübergreifend zu hören. Im Medizinbetrieb betrifft er alle Fachrichtungen, allerdings hat er in der Allgemeinmedizin eine besondere Brisanz. Denn die Allgemeinmedizin in Österreich ist weiblich geprägt: Unter den Hausärzt*innen machen Frauen 60,7 Prozent aus. Unter den Turnusärzt*innen, Ärzt*innen in allgemeinmedizinischer Ausbildung, sind es 55,2 Prozent (praktischarzt.at).  

Die Arbeitskultur im Medizinbetrieb muss besser werden

Aufgrund des hohen Frauenanteils hat die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Allgemeinmedizin eine besonders hohe Relevanz. In Österreich übernehmen Frauen einen Großteil der Familien- und Care-Arbeit. Mütter arbeiten dort zehnmal häufiger in Teilzeit als Väter (74,0 % vs. 7,7 %, 2023, statistik.at). Das Kleinunternehmertum einer eigenen Kassenpraxis ist mit aktiver Elternschaft kaum vereinbar.

Kritische Arbeitsbedingungen in Kassenpraxen:

PVZ bieten eine moderne Arbeitskultur

Bei der Bewältigung der Versorgungskrise setzt die österreichische Regierung auf Primärversorgungseinheiten (PVE). Bis 2025 sollen landesweit 120 dieser Einheiten entstehen (orf.at). Dieses innovative Modell zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:

Zwei Varianten von PVE werden gefördert: Primärversorgungszentren (PVZ) mit einem einzigen Standort und Primärversorgungsnetzwerke (PVN) mit mehreren Standorten (gesundheitskasse.at).

Für Ärzt*innen und Fachkräfte im Gesundheitswesen bieten PVEs zahlreiche Vorteile (sozialministerium.at):

Solche Arbeitsbedingungen sind in anderen Branchen längst etabliert und entsprechen den Erwartungen moderner Arbeitnehmer:innen. Neben finanziellen Anreizen stehen eine bessere Work-Life-Balance und flexible Arbeitsmodelle ganz oben auf der Wunschliste von Beschäftigten im D-A-CH-Raum (Xing Arbeitsmarktreport 2024).

Deutschland und Österreich stehen vor denselben Herausforderungen

Hausärztliche Unterversorgung ist auch in Deutschland ein drängendes Thema. Bis 2035 könnten hier rund 11.000 Hausarztstellen unbesetzt bleiben (Robert-Bosch-Stiftung, 2021). Die Umstände für diese Entwicklung ähneln denen in Österreich:

So kann der Ausbau von PVZ in Deutschland gelingen

Das Versorgungsmodell PVZ existiert auch in Deutschland. Erste Zentren wurden in den 2010er-Jahren gegründet und haben sich im Laufe der Jahrzehnte professionalisiert. Dazu gehören die Poliklinik Veddel und das GeKo Berlin. Gestartet als Graswurzelbewegung, erhält die PVZ-Initiative seit einigen Jahren verstärkt Aufmerksamkeit von Gesellschaft und Politik. Zur Eignung des Versorgungsmodells für den Standort Deutschland fanden bereits mehrere groß angelegte Projekte statt, darunter das PORT-Projekt der Robert-Bosch-Stiftung und das Innovationsfondsprojekt PRIMA in Baden-Würtemberg, das sich mit der Transformation von Hausarztpraxen in PVZ beschäftigt. 

Einen wichtigen Baustein für den bundesweiten Ausbau von Primärversorgungszentren schafft das Innovationsfondsprojekt NAVIGATION. Darin entwickeln die Poliklinik Veddel und das GeKo Berlin ein skalierbares Best-Practice-Modell für PVZ, das in einem 24-monatigen Testlauf erprobt wird. Die Charité evaluiert gemeinsam mit der AOK die Vorteile der neuen Versorgungsform. Ein Überleitungsboard unter Leitung der Frankfurt University of Applied Sciences begleitet das Projekt mit dem Ziel, eine Integration in die Regelversorgung vorzubereiten.